Seit zwei Jahren macht Ägypten Schlagzeilen in den internationalen Medien: ein erstes Mal im Januar/Februar 2011 mit dem Fall des Regimes von Hosni Mubarak, ein zweites Mal im Juni/Juli 2013 mit der Absetzung von Mohammed Mursi und der Zurückweisung des Regimes der Muslimbrüder. Es geht hier um eine sehr tiefreichende politische und soziale Transformation, deren teilweise dramatische Konsequenzen (zivile Opfer der Repressionsmaßnahmen von 2011, islamistische Opfer von 2013, Attentate gegen die Kopten, Brand von Kirchen usw.) es manchmal verhindern, dass es zu einer wahrhaftigen Analyse der laufenden Vorgänge kommt. In meinen Augen spielt sich in Ägypten seit zwei Jahren etwas sehr Entscheidendes ab: die Ägypter, die durch ein mehr als vierzigjähriges autoritäres Regime jeder Möglichkeit einer politischen Debatte beraubt waren, entdecken die Freiheit und suchen, wofür sie einen hohen Preis zahlen, Zugang zu einer Form von Staatsbürgerschaft, die ihnen bisher verwehrt war. Es ist wichtig, sich diesen Horizont präsent zu halten, wenn man den tieferen Sinn der laufenden Wandlungen begreifen will. Oberhalb der Ebene der momentanen Dramen ist vielleicht das Land gerade im Begriff, etwas Positives hervorzubringen, das auch den gesamten Nahen Osten in einem günstigen Sinne entwickeln könnte.
Zwei große Stufen markieren die laufende Entwicklung: die sogenannte Tahrir-Revolution (Januar/Februar 2011) und die Abschaffung des Islamistischen Regimes (Sommer 2013).
Sie ist ein Bestandteil dessen, was jetzt gemeinhin als „Arabischer Frühling“ bezeichnet zu werden pflegt, ein politischer Prozess im Hintergrund, der in Tunesien seinen Anfang nahm und mehrere Länder der arabischen Welt beeinflusst hat, von Marokko bis Bahrain, mit daraus folgenden Regimewechseln in Tunesien, Ägypten und im Jemen, sowie einem allgemeinen Wind des Protests, der andere Länder wie Marokko und Jordanien zu Veränderungen im Inneren veranlasst hat. Der Fall Syrien muss separat betrachtet werden, er erschließt sich aus dem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, welcher sich durch die ganze islamische Welt zieht. Er ist auch die Haupttriebfeder der inneren Konflikte im Irak.
Hosni Mubarak erschien fest in seiner Machtstruktur etabliert, er genoss die Unterstützung zahlreicher westlicher Länder, die in seinem Regime ein Bollwerk gegen die Verbreitung des Islamismus sahen. Alt geworden, seit 30 Jahren an der Macht, bereitete er seine Nachfolge durch seinen Sohn Gamal vor, als dann innerhalb von nur 18 Tagen die Straße sein Regime hinweggefegte. Wenigstens zwei Faktoren sind für diesen spektakulären Fall zur Erklärung heranzuziehen:
Das ägyptische Militär hat sehr schnell angezeigt, es werde nicht auf die Kinder des ägyptischen Volkes schießen, und sich so im Gegenteil als die einzige etablierte Institution gezeigt, die in der Lage war, den politischen Übergangsprozess zu führen. Die Amtsgewalt Mubaraks wurde so einem Höheren Rat der Streitkräfte (CSFA) übertragen, der den Übergangsprozess von Februar 2011, dem Zeitpunkt des Falls von Mubarak, bis zur Übertragung der Macht an die Zivilisten am 30. Juni 2012 leiten sollte. Diese CSFA musste mehrere schwierige Kapitel behandeln:
Am Ende von 15 Monaten an der Macht war das ägyptische Militär in der Lage, die Amtsgewalt an Zivilisten zu übertragen. Die Übergabe fand am 30. Juni 2012 statt. Sie ließ auf eine neue Ära für Ägypten hoffen. Die zu bewältigenden Aufgaben waren enorm. Da die Geschäftswelt keine instabilen Verhältnisse liebt, hatten in der Zwischenzeit ausländische Unternehmen ihre Investitionsmaßnahmen in Ägypten gestoppt (die direkten Auslands-investitionen fielen von 12 auf weniger als 2 Milliarden $); der Tourismus, wichtiger Arbeitsbeschaffer vor allem in Oberägypten und am Roten Meer, kollabierte. Die Ägypter gewinnen Geschmack an der Freiheit, streiken vermehrt und erheben Forderungen nach sozialen Verbesserungen.
Das ist der, welcher sich seit dem 30. Juni 2013 abspielt. An diesem Tag führt eine nationale Veranstaltung von nie gekanntem Ausmaß (man sprach von 17 Millionen Teilnehmern) zur Absetzung des Präsidenten Mursi, bekanntgegeben durch den Verteidigungsminister General al-Sissi, in Begleitung des Großimams Dr. Ahmed al-Tayeeb, des Koptisch-Orthodoxen Papstes Tawadros II., des Repräsentanten der antiislamistischen Oppositionsparteien Ahmed al Baradei sowie des Vertreters der Salafisten. Kurz gesagt: eine sehr breite Phalanx äußert ihren Wunsch nach einem Ende des Regimes der Muslimbrüder, die seit einem Jahr an der Macht sind. Was ist passiert? Nach der Meinung im Westen wird das, was man als einen „militärischen Staatsstreich gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten“ betrachtet, nahezu einhellig verurteilt. Mit Ausnahme der Parteigänger der Muslimbrüder betrachtet (hingegen) das Volk auf Ägyptens Straßen dies als einen Putsch des Volkes und unterstützt massiv die daraufhin einsetzenden Repressionsmaßnahmen gegen die Muslimbrüder. Wie ist die Differenz zwischen westlicher und ägyptischer Wahrnehmung zu verstehen?
Der Westen -sowohl die Presse als auch die politisch Verantwortlichen- trägt eine ernsthafte Mitverantwortung daran, da er sich damit zufrieden gibt, einseitig diese Repressions-maßnahmen zu verdammen. Alle Welt schwieg hingegen, als sich Mohammed Mursi alle Vollmachten griff und eine Verfassung in Kraft setzte, die am Ende einer Maskerade von verfassungsgebender Versammlung, welche von den Muslimbrüdern regelmäßig blockiert wurde, die Basis für einen Islamischen Staat legen sollte. Heute spricht man davon, Ägypten auszuhungern, was das Land nur noch tiefer ins Elend und in die Arme der Extremisten triebe.
Vordringlich ist jetzt die Wiederbelebung des politischen Prozesses. Die Interimsregierung hat bereits eine Revision der Verfassung unternommen, die Mohammed Mursi ohne zureichende Diskussion hatte passieren lassen. Sie sieht sobald wie möglich Wahlen für Legislative und Präsidenten vor. Dies ist der beste Weg zu einer baldestmöglichen Rückkehr zu einer normalen Funktionsfähigkeit der Institutionen, zur Rückkehr der Militärs in ihre Kasernen und zur Wiederaufnahme der vollen Macht durch die Politik. Dies wird nicht einfach werden: das Risiko einer Rückkehr der Mubarakisten ist nicht gering; die ägyptischen „Liberalen“ sind noch zu zerstritten, die jungen Revolutionäre vom Tahrirplatz zu irrealistisch. Der Entbindungsprozess der ägyptischen Demokratie wird Jahre dauern. Man muss dem Land Zeit geben, um dorthin zu gelangen, und es in diesem Kampf begleiten und unterstützen.
Gegenwärtig sitzen die Blessuren und der Unmut tief, sowohl bei den Muslimbrüdern als auch bei den Kopten. Es wird viel Zeit kosten, um die Wunden in der ägyptischen Gesellschaft zu heilen. Ägypten hat allerdings gegenüber anderen nahöstlichen Ländern (Irak, Libanon, Syrien) den Vorteil, ein homogenes Land ohne regionale oder ethnisch-religiöse Bruchlinien zu sein. Es ist nicht aus dem Neuzuschnitt der Region nach dem Fall des osmanischen Reichs entstanden, und das stellt heute einen wertvollen Trumpf dar.
Die Gemeinde der ägyptischen Christen ist zahlenmäßig die größte im Nahen Osten, mit etwa 7 Millionen Gläubigen, das ist etwas weniger als 10% der Gesamtbevölkerung. Die Mehrheit der ägyptischen Christen gehört zur Koptisch-Orthodoxen Kirche, einer seit den Anfängen des Christentums vor Ort präsenten Nationalkirche. Zu Recht sind die ägyptischen Christen stolz darauf, zu einer Kirche aus der Zeit der Apostel zu gehören, in der das Mönchtum entstanden ist (St. Antonius der Große, St. Pachomius), und die sich durch große Theologen wie Kyrill von Alexandrien und Klemens von Alexandrien ausgezeichnet hat. Die katholische Gemeinde zählt nur etwa 250.000 Gläubige, sie verfügt jedoch über eindrucksvolle Erziehungs- und Sozialaktivitäten in einem Netzwerk von Schulen, Dispensarien und Zentren für Arme und Behinderte.
In ihrem Zorn über den Machtverlust haben die Islamisten jüngst Aktionen gegen die Christen entfesselt, mehr als 50 Kirchen angezündet, viele Läden und Häuser von Christen angebrannt. Das ist Ergebnis einer seit Jahren von extremistischen muslimischen Predigern verbreiteten Hasstirade. Es ist aber durchaus nicht repräsentativ für die herrschende Gefühlslage der ägyptischen Muslime, die solche Exzesse verurteilt haben und manchmal auch interveniert sind, um die Kirchen zu retten.
Es bleibt aber, dass diese jüngste Gewaltepisode dazu beigetragen hat, in der Gemeinschaft der Christen, die seit langem an einer wirklichen Diskriminierung leidet, ein Gefühl der Angst wachsen zu lassen: (nehmen wir nur) die Schwierigkeit des Zugangs zu Stellen im höheren Bereich der Öffentlichen Verwaltung, die Verärgerung über die Islamisierung des Alltags unter Einfluss der Golfstaaten-Propaganda, den Streit mit den Verwaltungen, um einen christlichen Kultort bauen oder auch nur renovieren zu dürfen. Der Machtantritt der Muslimbrüder ließ sie die Installierung eines Islamischen Staats befürchten, in dem ihr Platz noch schwieriger wäre. Daher haben sie die Absetzung von Mohammed Mursi massiv unterstützt, was die Muslimbrüder ihnen anschließend durch die jüngsten Gewalttaten heimgezahlt haben.
Diese dramatische Zuspitzung darf aber nicht vergessen machen, dass Christen und Muslime in Ägypten seit Jahrhunderten zusammenleben, die gleichen Schulen besuchen, in den gleichen Wohnblocks und den gleichen Vierteln wohnen. Es kann angenommen werden, dass die Mehrheit der ägyptischen Muslime dieser friedlichen und durch die Machtübernahme eines islamistischen Regimes schwer bedrohten Koexistenz weiterhin positiv gegenübersteht. Bis vor wenigen Jahren war der ägyptische Islam eine moderate Form des Islam, in dem die Bruderschaften und der Sufismus eine bedeutende Rolle spielten. Der derzeitige Großimam stammt selber aus diesem Milieu. In dieser Hinsicht repräsentierten die Muslimbrüder einen Bruch mit der traditionellen Positionierung des ägyptischen Islam.
Der Westen hat in seiner Sorge um die Unterstützung der Christen im Orient manchmal eine zu manichäische Vorstellung von der christlich-muslimischen Beziehung. Das Los der Christen über Gebühr zu dramatisieren hilft diesen nicht wirklich dabei, sich in die laufenden politischen Veränderungsprozesse einzubringen, was ihnen ja einen erneuerten Zugang zum Staatsbürgertum eröffnen könnte. Statt sie zum Auswandern zu ermutigen, sollte man eher ihre sozialen Werke unterstützen, wo eine großartige Arbeit geleistet wird. In ihren Schulen lernen die -christlichen und muslimischen- Kinder nicht nur den Schulstoff: Jungen und Mädchen lernen das Zusammenleben, keine Furcht voreinander zu haben, miteinander an nützlichen Projekten für das Land zusammenzuarbeiten.
Eine solche positive Vision dient auch dem Interesse daran, die Muslime zu ermutigen, welche sich einem pluralistischen, toleranten und die kulturellen und religiösen Verschiedenheiten respektierenden Ägypten verschrieben haben. Das ist der Sinn einer neulich gestarteten Initiative der al-Azhar, der höchsten Autorität des sunnitischen ägyptischen Islam: sie hat ein „Haus der ägyptischen Familie“ gegründet, in dem sich alle Bestandteile der ägyptischen Gesellschaft treffen und über die Herausforderungen des Landes austauschen können. Von bleibender Wichtigkeit ist, dass die islamischen Autoritäten regelmäßig die Hasspropaganda und Intoleranz gewisser extremistischer Prediger verurteilen, die das niedrige Kulturniveau großer Volksschichten ausnutzen, um sie in radikalem Sinne zu beeinflussen.
Von „interreligiösem Dialog“ zu sprechen ist illusorisch, solange nicht ein Mindestmaß an gegenseitigem Respekt gegeben ist. Sowohl bei den Christen als auch bei den Muslimen wird die öffentliche Meinung weithin manipuliert. Die Christen verfallen in die Opferrolle, die Muslime in ein gutes Gewissen, anstatt gemeinsam konkret zu überlegen, wie ein besseres Zusammenleben möglich wäre.
In den beiden letzten Jahren haben sich gegenseitige Vorbehalte, Vorurteile und Ängste zwischen Christen und Muslimen erhöht. Sie haben aber auch schöne Beispiele von Solidarität gezeitigt, wo sich Christen und Muslime in manchen Veranstaltungen gegenseitig geschützt haben. Es muss alles unternommen werden, um das Zusammenleben zu fördern und gegen die Furcht vor dem Anderen oder gar den Hass des Anderen anzukämpfen.
Die Dominikaner nehmen bescheiden Anteil an diesen Bemühungen um das gegenseitige Zusammenleben. Sie sind seit 1930 in Ägypten präsent und leiten das Dominikanische Institut für Orientalistische Studien (IDEO) Studien, das auf Anordnung des Heiligen Stuhls 1953 gegründet wurde, um „unter Absehung von jeder Art des Proselytismus eine bessere Kenntnis des Islam durch seine Kultur“ zu fördern. Dank einer Gruppe von Arabisten mit Spezialisierungen in verschiedenen Bereichen der islamischen Kultur, dank einer sehr schönen islamischen Studienbibliothek mit 155.000 Bänden, mittels einer wissenschaftlichen Zeitschrift und diversen Begegnungsinitiativen bemühen sie sich beharrlich um eine bessere Kenntnis des Islam und deren Verbreitung unter denen, die ihn missverstehen und von ihren Ängsten und Vorurteilen bestimmt werden. Es braucht lange Zeit, um Vertrauen wiederherzustellen, um sich wirklich kennenzulernen und eine Freundschaft aufzubauen, die gefestigt genug ist, um dann zu erlauben, gemeinsam und in friedlicher Form die aus der alten und jüngeren Geschichte resultierenden Blessuren aufzuarbeiten.
Die Liebe zur Begegnung mit dem Anderen, zum Wunsch, ihn in Respekt vor seiner Andersheit kennenzulernen, zum miteinander Aufbauen, Lachen und Weinen – dies erfordert viel Zeit, Geduld, viel Nächstenliebe. Christen sind und bleiben im Nahen Osten eine Minderheit, und vielleicht ist es dieser Status, den Gott für sie vorgesehen hat, damit Vergebung über Gewalt, Liebe über Hass, Versöhnung über Kampf gegeneinander siegen können.
Wichtig ist es, eine objektive und beruhigende Perspektive auf den politischen Übergangsprozess zu suchen, der sich in Ägypten vollzieht. Dieser Prozess hat die Tür zu mehr Freiheit geöffnet, zur Möglichkeit zu mehr bürgerlicher Existenz. Er hat auch eine große Mehrheit der Ägypter -einschließlich der Muslime- dazu geführt, die Installierung eines Islamischen Staates zurückzuweisen, in dem die Christen keinen Platz hätten. Es ist notwendig, den Ägyptern Vertrauen zu schenken, sie zu unterstützen, sie mit Freundschaft zu begleiten und nicht vorschnell von außen zu urteilen. Wenn dieser Übergang gelingen sollte, wäre das von entscheidender Bedeutung für die gesamte Region, die dieses Land mit besonderem Interesse beobachtet. Der Nahe Osten lebt seit 30 Jahren dominiert von der Ideologie des politischen Islam. Zum ersten Mal hat sich ein großes und mehrheitlich islamisches Land für einen zivilen, nicht theokratischen Staat ausgesprochen. Man muss diesen Übergang, der lange dauern und wahrscheinlich schmerzhaft sein wird, unterstützen – der Einsatz hierfür lohnt sich!
Jean Jacques Pérennès
Dominikaner, Kairo
Zu seiner Person:Jean-Jacques Pérennès, Dominikaner, ist 1949 in Frankreich geboren. Er hat lange Jahre in Algerien und dann in Ägypten gewohnt, wo er Direktor des dominikanischen Instituts für Orientalische Studien (IDEO, Institut dominicain d‘Études Orientales) in Kairo ist. Seine Untersuchungen galten sowohl der Entwicklungswirtschaft als auch dem interreligiösem Dialog und der Geschichte des Dominikanerordens in der muslimischen Welt. Nach einer 15-jährigen Lehrzeit der Entwicklungswirtschaft an der Universität von Alger (1978-1985), an der Katholischen Universität in Lyon und am Institut für politische Studien in Lyon (1985-1992), wurde er Stellvertreter des Dominikaner Ordens in Rom (1992 -1998). Von 2002 bis 2010, war Jean-Jacques Pérennès ebenfalls Vikar für die dominikanischen Gemeinschaften in der arabischen Welt. Er ist der Autor der Biographie von Pierre Claverie. Un Algérien par alliance, Cerf, Paris 2000 et de Georges Anawati, Un chrétien égyptien devant le mystère de l’islam, Cerf, Paris 2008. |
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