19. September 2013
Kardinal Luis Antonio Tagle, ehemaliger MWI Stipendiat und Erzbischof von Manila berichtet


Fotos: Helmut Schwarzbach

Interview mit Kardinal Luis Antonio Tagle, Erzbischof von Manila (am 18.07.2013 während des V. IACM Kongresses in Nairobi (Kenia) zum Thema „Inter Gentes“, 45 min)

 

Das Missionswissenschaftliche Institut (MWI) Aachen hat ihr Aufbaustudium (Doktorat) in Washington gefördert. Wie wichtig waren Ihr weiterführendes Studium und das Stipendium für Ihre Arbeit?

Zunächst möchte ich sagen, dass ich sehr dankbar für die Möglichkeit des Stipendiums war – und dass ich noch immer dafür dankbar bin. Das MWI hat mein Doktoratsstudium in Washington DC mitgefördert. In Washington selbst hatte ich ja ein Stipendium für den Aufenthalt seitens der Universität und seitens meiner Diözese. Das alleine hätte für die Forschung wie z.B. für den Kauf von Büchern nicht gereicht. Hier kam im richtigen Moment das MWI zur Hilfe. Das war wie eine Rettung [er lacht herzlich]!

Das Aufbaustudium war ein „TURNING POINT“ in meinem Leben. Ich dachte, dass ich nach dem Studium als Theologielehrer ins Seminar zurückgehen würde. So kam es aber nicht! Ich wurde nach dem Abschluss des Doktorats eingeladen, um in der Theologischen Kommission der Asiatischen Bischofskonferenz (FABC) mitzuarbeiten. Mein Horizont hat sich erweitert: von meiner Diözese und meinem Seminar hin zu dieser weiten, faszinierenden Welt des asiatischen Kontinents, wo die missionarische Dimension der Kirche als Dialog gelebt wird.

Und das Studium in Washington ist natürlich wichtig für meine jetzige Arbeit. Hätte ich zu Studienzeiten gedacht, dass ich Bischof werde, Erzbischof von Manila? Oder sogar Kardinal? Nein… Mein Studium war in diesem Sinn eine gute Ausbildung für meinen Dienst. Ich kann sagen, die Förderung war eine theologische und missionarische Vorbereitung, insbesondere auch für meine Arbeit in anderen Teilen der Weltkirche außerhalb der Philippinen.

 

Unsere Leser und Spender interessieren sich für Ihren familiären Hintergrund. Könnten Sie uns zu Ihrer Herkunft etwas erzählen?

Ich komme aus einer normalen, schlichten Familie: In Manila bin ich geboren, aufgewachsen bin ich jedoch in der in der Stadt Imus, Provinz Cavite. Das ist meine Heimtatdiözese, wo ich später Bischof wurde. Mein Vater ist Filipino, er arbeitete über 40 Jahre lang für eine Bank. Meine Mutter ist Filipina mit chinesischen Wurzeln, mein Großvater stammt nämlich aus China. Als Teenager kam er auf die Philippinen und blieb dort. Meine Eltern sind aus einfachen Verhältnissen, sie haben sich auf der Arbeit - in der Bank! - kennengelernt.

Ich hatte eine jüngere Schwester; sie ist nach ihrer Geburt gestorben. Und ich habe einen Bruder, der in den USA arbeitet. Wir sind also zu zweit. Meine Herkunft: Eine normale Familie, die das Arbeitsleben kennt, aber auch die Migration.

Meine Eltern haben uns das vielleicht schönste Geschenk mit auf den Lebensweg gegeben. Sie haben auf eine gute Erziehung für uns geachtet und uns Werte mitgegeben, die wir in die Gesellschaft miteinbringen können. Ich denke, dass diese die wichtigsten Aspekte sind: der Zusammenhalt meiner Familie, der Besuch der Schule, der Kontakt zur Pfarrei, also: die Verantwortung in der Gemeinschaft.

 

Wie kam es zum dem Entschluss, Priester zu werden?

Mein Plan war es eigentlich, Arzt zu werden. Meine Eltern und andere Verwandte fanden die Idee auch gut. So war ich als junger Mensch darauf festgelegt und habe auch nur daran gedacht. Mit 13 oder 14 Jahren habe ich mich im Leben der Pfarrei engagiert. Das war die Jugendarbeit vor Ort. Ich erinnere mich an ein Programm der Gemeinde für die Straßenkinder und an unsere Aktivitäten nach einem Taifun. Wir haben Nahrung und Kleidung für all die Menschen bereitgestellt, die ihre Häuser verloren haben. In dieser Zeit hatte ich Kontakt zu jungen Priestern und Missionaren. Es waren Menschen mit einer Vision, die an eine Veränderung der Gesellschaft glaubten! Und das mitten in der Zeit der schwierigen politischen Krise der 1960er Jahre und in sehr kritischen Momenten des Landes. In diesem Umfeld bin ich groß geworden - in der Pfarrei beheimatet und vom Gedanken der Mission begeistert: So viele Frauen und Männer, Priester, Ordensleute, die sich mit ihrem gesamten Leben einsetzen, sich engagieren für das Leben der Kirche, der Gemeinde, der anderen. Dennoch wollte ich weiterhin Medizin studieren. Und da hat mich ein Priester eingeladen und mir für eben dieses [Medizin-] Studium eine Förderung versprochen … aber es ging nicht um das Medizinstudium, es war ein Examen für das Priesterseminar. Das merkte ich erst danach. „Warum hast Du mir das angetan?“ fragte ich ihn nach dem Test. Er antwortete: „Weil Du bisher nur eine Idee im Kopf hast: Die Idee, Arzt zu werden. Aber es sind noch andere Dimensionen, andere Wahlmöglichkeiten zu berücksichtigen.“ Ich war mit dieser Antwort etwas verwirrt und habe weiter überlegt: Werde ich Arzt? Soll ich Theologie studieren? Mit der Entscheidungshilfe auch von anderen habe ich dann gedacht: Ich werde mich für die Theologie entscheiden.

Und hier entdecke ich den tiefen Sinn der Berufung. Wirklich, es ist ein Ruf: Nicht ich bin es, sondern Gott selbst ruft. Meine eigene Wahl und mein Wunsch waren es, zunächst Arzt zu werden. Doch da entdeckte ich dieses Geheimnis der Berufung. Da ist etwas, das mich erfüllt, jemand, der mich anspricht. Und ich werde auf einen ganz anderen Weg geschickt, als ich selbst gedacht hatte; ein Weg, der mir die Augen öffnet: Wer bin ich wirklich? Es war nun nicht mehr mein eigener Plan und zum Schluss konnte ich nur sagen: „Here I am“!

 

Nach Ihrem Studium haben Sie Ihre Lehrtätigkeit begonnen und werden für theologische Statements angefragt. Wie wichtig ist die theologische Ausbildung für die Kirche? Was sind die Herausforderungen für die Theologen auf den Philippinen?

Mehr und mehr merke ich, dass eine gute missionarische und pastorale Praxis mit einer soliden Theologie einhergeht - und eine gute Theologie hat eine missionarische und pastorale Auswirkung. Das gehört zusammen, das eine unterstützt das andere, das eine hängt vom anderen ab. Ich bin glücklich, dass ich die Lebensoption, Priester zu sein, während der herausfordernden Zeit der Diktatur getroffen habe. Unter den schwierigen Bedingungen, unter denen die Kirche lebte, habe ich meine eigene Inspiration von Leuten der Kirche, von Frauen und Männern, von Ordensleuten und Priestern bekommen, die Antworten geben konnten für Menschen in kritischen Momenten ihres Lebens. Das war ein Lebenszeugnis und die Antworten dürfen kein „WischiWaschi“ [sic!] sein, etwas Erfundenes, klug Ausgedachtes, Imagination. Es braucht ein solides theologisches Fundament, eine solide theologische Tradition etc. So ist beides voneinander inspiriert: pastorale und missionarische Praxis ist eine Bereicherung für die Theologie und umgekehrt ist die Theologie eine Inspiration der Pastoral.

In diesem Sinn ist die Herausforderung für die Theologen der Philippinen die, die für gesamt Asien gilt:

Wie führen wir einen Dialog mit den Armen?

Wie gestalten wir einen Dialog mit der Kultur?

Ich meine damit nicht ein eng geführtes Verständnis der Kultur mit den vielfältigen Bezügen zur Musik, zur Kunst oder hinsichtlich der Bräuche. Das ist sicherlich alles sehr wichtig.

Unter Kultur verstehe ich hier die gesamte und existentielle Bedeutung von menschlichen Werten, die Frage nach dem, was dem Leben Sinn gibt. Die Herausforderung ist: Wie entdecken wir die christliche Botschaft so, dass sie unserer Kultur mehr Leben schenken kann? Die Philippinen sind heute geprägt von Migration, von Diversität und Pluralismus. Wir führen den Dialog mit anderen Religionen. Bisher waren die Philippinen sehr katholisch geprägt, jetzt aber setzen wir uns – auch durch die Migration – mit anderen Weltanschauungen auseinander.

 

Der neue Papst spricht vom “theologischen Narzissmus”. Was halten Sie von dieser Aussage und was sollte sich in der Theologie ändern?

Der Narzissmus ist immer eine Versuchung. Das betrifft nicht nur die Theologie. Das findet man auch in anderen Gebieten z.B. in der Politik. Politiker kümmern sich gerne um sich selbst. Narzissmus in der Kunst, in der Wirtschaft. So sehe ich das auch in der Theologie. Das kann alles unterhaltsam sein, wenn man unter sich bleibt. Es ist sogar eine Versuchung: nur die eigenen Ideen, ein schön ausgestattetes eigenes Büro mit Büchern und eigenen Artikeln. Das könnte eine Versuchung sein. Theologie also nur für die Theologie? Die Theologie ist kein Selbstzweck. Die „professionellen“ Theologen müssen im Dialog mit den Menschen vor Ort sein, im Gespräch mit der Praxis der Pastoral und der Mission!

Und auch hier gilt wieder das wechselseitige Verhältnis: Das theologische Denken sollte ernst genommen werden von den Praktikern. Da darf es dann nicht nur um Kleinigkeiten gehen, um dies oder das, sondern um eine profunde Grundlage des christlichen Glaubens. Die Theologie steht im Dienst der Verkündigung der Kirche, ihrer Pastoral.

Darum ist dem Hl. Vater zuzustimmen - übrigens nicht nur für die Theologie, sondern für die gesamte Kirche. Es ist eine Herausforderung, die „Selbstreferenz“ der Kirche, von der der Hl. Vater spricht, zu überwinden.

 

Papst Franziskus wünscht sich eine Kirche der Armen, eine Kirche, die zu den Armen geht. Haben Sie als Erzbischof der Metropole Manila überhaupt Zeit, sich mit den Armen zu treffen?

Als Erzbischof besuche ich die Pfarreien zu ganz unterschiedlichen Gelegenheiten. Ich kenne die „fiestas“, aber auch die Treffen und Programme der Evangelisierung, die Aktivitäten der Katecheten, die Zusammenkünfte der Caritas oder der Jugend. Da sind viele Angebote in der Megacity von Manila. Und überall dort treffe ich auf die Armen! In jeder Pfarrei gibt es Arme, besonders in den Randgebieten der Stadt. Ich denke an die ganz normalen Besuche, die Teil meines Dienstes sind. Die Kontakte und kurzen Gespräche beispielsweise vor einer Messe, die Besuche zu Hause bei den Menschen. Aber auch die Begegnungen in den Slums, die Gespräche mit den Kindern, bei der Caritas, im Krankenhaus. Das alles gehört zu meinem bischöflichen Dienst.

Und es gibt die informellen Kontakte mit den Armen: wenn ich am Abend in Manila ab und an zu Fuß unterwegs bin, wenn die Leute nicht wissen, dass der Erzbischof da vorbei geht. Da sehe ich abends gegen 21 Uhr Familien, die sich eine Ecke suchen, um zu schlafen. Oder ich habe Kinder vor Augen, die nichts zu essen haben und Drogen nehmen, um ihr Hungergefühl zu stillen. Das ist das alltägliche Leben ohne große Propaganda, ohne Presse, ohne Fotografen. Das geschieht im Verborgenen.

Darüber hinaus gibt es auch die organisierten und strukturierten Kontakte mit den Vertretern des öffentlichen Lebens. Im Dialog mit ihnen sehe mich als Stimme der Armen. Ich suche auch den Kontakt mit der Regierung. Ich rufe dort an, damit unsere Politiker wissen, was los ist. So ermöglicht die Kirche eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen.

 

Sie haben zum ersten Mal an einem Konklave teilgenommen. Wie ist es Ihnen ergangen?

Zunächst: Ich konnte es ja fast nicht glauben, dass ich bei einem Konklave dabei sein sollte. So viele Kardinäle vor mir haben niemals an einem Konklave teilgenommen. Andere sind bereits über 80 Jahre alt. Und da bin ich nun dabei als einer, der gerade erst einmal drei Monate Kardinal ist. Ich lernte doch erst gerade damit umzugehen, „Kardinal“ zu sein. Just in diesem Moment kommt die wichtigste Funktion - oder besser gesagt: der wichtigste Dienst – eines Kardinals auf mich zu: das Konklave. Wie ist es mir ergangen? Es ist kein Gefühl des Stolzes, ich kann eher sagen, dass mich diese neue Erfahrung demütig stimmt. Diese Erfahrung … da merke ich auf einmal, dass ich der einzige Filipino bin, der am Konklave teilnimmt und dann bin fast erschrocken, dass meine Stimme [wörtlich: Hand] und meine Entscheidung für 90 Millionen Menschen der Philippinen steht.

Es war ein Moment der Gnade; ein historischer Moment, denn jedes Konklave selbst schreibt Geschichte. Die Tragweite der Entscheidung durch meine Stimme ist mir sehr bewusst. Jeden Tag treffen wir Entscheidungen: Was werde ich essen? Welche Kleidung trage ich? Was tue ich heute? Aber auch Entscheidungen, die andere Leute angehen. Aber die Entscheidung im Konklave war eine andere. Die Entscheidung ist wirklich im Gewissen vor Gott zu prüfen, da es eine Entscheidung für die ganze Kirche ist. Ein wichtiger Moment. Es war eine spirituelle Erfahrung, um genau auf die Motivation zu schauen, meine Gedanken zu sortieren. Über die innersten Abläufe kann ich allerdings nicht reden, das ist bekanntlich Teil des „Mysteriums“... [und er lacht wieder].

 

Der neue Papst ist aus Lateinamerika. Wie wird oder wie sollte die Rolle der „jungen Kirchen“ Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sein?

Bisher haben wir klassisch von einer europäischen Kirche gesprochen, die Missionare aussendet zu den sogenannten „jungen Kirchen“. Heute wissen wir, dass die gesamte Kirche missionarisch gesandt ist. Afrika, Asien und Lateinamerika sind stärker als bisher in der Weltkirche aktiv. Wir sollten diese Verantwortung gewissenhaft wahrnehmen. Die Weltkirche braucht die Beteiligung Lateinamerikas, Asiens und Afrikas, wenn sie wirklich “katholische” Kirche werden will. Ich sagte heute Morgen [beim Vortrag zum Thema „Inter Gentes“ an der katholischen Universität in Nairobi]: Die Universalität, die Katholizität, das sind keine abstrakten Dinge, dass muss immer konkret werden. Die „Catholica“ wird wirklich katholisch, wenn wir uns in unserer Identität als Asiaten, als Afrikaner oder als Amerikaner miteinbringen: ein Glaube, eine Kirche. Wir sollten ernsthaft über unsere Identität, unsere Erfahrungen, über unsere Träume, Wünsche, Kämpfe aber auch unsere Erfolge nachdenken. All das gehört in die Gemeinschaft der „Catholica“.

 

Ist die Sicht der Kirche noch sehr europäisch fixiert? Was sollte sich ändern?

Die lange Geschichte der Kirche ist eng mit Europa verbunden. Ich denke nicht, dass sich die über 1000-jährige Geschichte des christlichen Abendlandes leugnen lässt, in der Europa eine sehr aktive Rolle in der Entwicklung der Kirche gespielt hat. Das ist eine historische Tatsache. Mentalität und der Wechsel der geschichtlichen Herausforderungen sind anzunehmen. Es geht nicht darum, Europa zurück zu weisen, sondern es geht darum, die anderen Kontinente zu hören. Wir stehen zueinander! Europa wird nicht verschwinden. Nein, das nicht. Europa wird aber lernen müssen, zu zuhören. Leben mit den anderen. Das heißt aber auch: Die Kirchen der anderen Kontinente müssen den Willen haben, sich einzubringen. Einander mitzuteilen. Wenn wir uns da nicht bewegen, dann werden die Leute natürlich sagen: „Das ist ja nur eine europäische Kirche.“ Diesem Wandel müssen wir uns stellen: einander teilen! Das ist ja „missio inter gentes“: Menschen und Völker, die in gegenseitigem Austausch stehen, Dialog leben, einander zuhören. In diesem Prozess werden wir uns als Kirche weiterentwickeln und zu dem werden, was wir sind!

 

Dankeschön!

 

 

Entwurf der Fragen: MWI Aachen

Interview/Übersetzung: Michael Meyer

Aachen, 25.07.2013

Bearbeitung: Nadine Albrecht